Ein privates Medium von öffentlichem Interesse

Zur Geschichte der Feldpost in Deutschland

 

Aus den heutigen Darstellungen von Kriegen ist eine Quelle besonderer Art nicht mehr wegzudenken: der Feldpostbrief. Er bietet etwas, was Lageskizzen, Aufmarschpläne, Heeresbefehle, Kompanietagebücher, militärtheoretische Erörterungen u. ä. nicht leisten können. Er vermittelt die Alltagsgeschichte des Krieges, die individuelle Reflexion historischer Entscheidungen, das eigentliche „Leben“ im Krieg, das nur allzu oft ein Sterben war. All dies sind Aspekte, die im Laufe des 20. Jahrhunderts aus den unterschiedlichsten Beweggründen immer mehr an Gewicht gewonnen, ein immer größeres Interesse bei breiten Schichten der Bevölkerung gefunden haben.

 

 

Feldpost – eine Organisationsgeschichte

 

Die Feldpost ist so alt, wie es Kriege sind. Entstanden ist sie als Kriegspost, also als Übermittlung rein militärischer Informationen. Lange war sie nicht unbedingt an Schrift gebunden, sondern wurde als mündliche Überlieferung organisiert. Läufer, später Reiter stellten zwischen Heer und Herrscher und zwischen einzelnen Truppenverbänden die Verbindung her. Eine bis in die Gegenwart berühmte Kriegspost der Antike ist der Läufer von Marathon, der 490 v. u. Z. nach der Überbringung der Siegesnachricht in Athen erschöpft starb. Informationen durch ein gut organisiertes System von Läufern und Reitern sind auch umfänglich für das Römische Reich belegt. Was wir heute unter Kriegspost oder Feldpost verstehen, ist als Phänomen erst seit dem Spätmittelalter anhand seltener Dokumente festzustellen. Das seit dem 13. Jahrhundert existierende Nachrichtensystem des Deutschen Ordens kann als eine der frühesten Formen der Feldpost in Deutschland angesehen werden.[1] Kaiser Maximilian I. richtete um 1500 eine reguläre Postverbindung zwischen Militär und Heimat ein. Und auch Karl V. lässt 1522/24 wegen der Türkengefahr einen feldpostähnlichen Dienst organisieren. Im Dreißigjährigen Krieg wird erstmals ein Feldpostamt eingerichtet. Die übermittelten Schriftstücke sind bis dahin ausschließlich offizielle Post oder Post der Oberschicht. Eine eigentliche Feldpost für alle Armeeangehörige, die eben nicht nur eine Kriegspost war, entwickelte sich seit dem 18. Jahrhundert in Preußen infolge der zahlreichen militärischen Auseinandersetzungen, insbesondere im Siebenjährigen Krieg. Während der Befreiungskriege hatte Preußen 1813/14 3 Feldpostämter mit 27 Sekretären, 4 Briefträgern und 79 Postillionen. Die Beförderung erfolgte angesichts der damaligen Infrastruktur schon recht schnell: zwischen Berlin und Paris brauchte ein Brief 12 Tage. Durch den Fortschritt in der Transport- und Kommunikationstechnik, wie Eisenbahn und Telegraf, kam es zu einer umfassenden Reorganisation der Feldpost. Die Leistungen erhöhten sich bedeutend. Während des Preußisch-Österreichischen Krieges von1866 wurden jeden Tag mehr als 30.000 Briefe durch die preußische Feldpost befördert. Die hier gesammelten Erfahrungen führten zu einer Umorganisation der Feldposteinrichtungen. Es wurde erforderlich, Verbindungen für sich bewegende Armeen herzustellen.

Im Deutsch-Französische Krieg 1870/71 bestand die Norddeutsche Feldpost bereits aus 77 Feldpostanstalten mit 292 Beamten, 202 Unterbeamten, 294 Postillionen, 869 Pferden und 188 Fahrzeugen. Sie beförderte mehr als 90 Millionen Briefe, 2,5 Millionen Zeitungen und 2 Millionen Pakete. Mit der Eisenbahn brauchte die Post zwischen Berlin und Paris nun nur noch 24 Stunden. Spätestens jetzt wird Feldpost in Deutschland hauptsächlich als private Post verstanden und nicht mehr als militärische Nachrichtübermittlung.

Der Erste Weltkrieg bedeutete eine Zäsur in der Geschichte des Postverkehrs. Nie zuvor mussten in kürzester Zeit so viele Sendungen unter bisher nicht gekannten Schwierigkeiten befördert werden. Es musste ein Millionenheer versorgt werden, dessen Einheiten sich z. T. in Bewegung befanden und in halb Europa und Teilen Asiens und Afrikas standen. Dafür sorgten unter Leitung von Feld-Oberpostmeister, Georg Domizlaff, ca. 8.000 Beamte und Trainsoldaten bei der Armee in 53 Feldpostämtern, 270 Feldpostexpeditionen und 417 Feldpoststationen und in der Heimat in 23 Feldpostsammelstellen. Befördert wurden zwischen 1914 und 1918 ca. 29 Milliarden Postsendungen.

Erstmals auch waren große Bevölkerungskreise, die kaum oder nie zuvor einen Brief geschrieben hatten, gezwungen, miteinander postalisch zu verkehren. Das Schreiben von Briefen war für die meisten Soldaten nicht nur neu, sondern durchaus ein Problem. Im Jahr der Reichsgründung 1871 hatte in Preußen, einem der fortschrittlichsten Länder Europas in Bezug auf die Schulbildung, die Analphabetenrate immerhin noch ca. 13% betragen. Auch der mehrjährige Schulbesuch in den folgenden Jahrzehnten garantierte insbesondere bei der ländlichen Bevölkerung kaum ausreichende Kompetenzen beim Lesen und Schreiben. Daher wurden im Ersten Weltkrieg sehr viele Postkarten mit den verschiedensten, oft farbigen Motiven verschickt. Diese machten den größten Teil der Postsendungen aus. Während des gesamten Krieges jedoch gab es Klagen wegen unkorrekter und zu langsamer Beförderung der Feldpost. Die Tatsache einer allgemeinen Feldpostzensur war den Soldaten sehr wohl bewusst und auch die möglichen Konsequenzen. Real allerdings beschränkte sich die Zensur angesichts der Masse der Postsendungen auf Stichproben. Das Briefgeheimnis galt offiziell auch nach Kriegsausbruch weiter. Bis Mitte 1916 gab es keine einheitlichen Zensurregelungen.

Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges stellte die Post vor ungeahnte logistische und organisatorische Herausforderungen. Von 1939 bis 1945 über ca. 40 Milliarden Postsendungen befördert. Der Hauptteil sind Feldpostbriefe und –karten, ein Viertel davon von der Front in die Heimat. Die NS- und die Wehrmachtsführung hatten das Problem der Postbeförderung im Kriege frühzeitig erkannt, ebenso deren erhebliche Bedeutung für die psychologische Stabilisierung der Frontsoldaten. Das Feldpostwesen war daher nicht unvorbereitet in den Zweiten Weltkrieg gegangen. Schon 1933 gab es erste „Richtlinien für die Vorbereitung der Reichsverteidigungsmaßnahmen“. Die erstaunliche Zuverlässigkeit und Geschwindigkeit der Feldpost war Resultat jahrelanger Bemühungen. Bereits in Friedenszeiten wurde ihre Verteilung geprobt, erstmalig 1936 bei einer Übung in der Oberpfalz. Bei der Annexion des Sudentenlandes und Österreichs konnte dann die Effektivität des Systems unter realen Bedingungen kontrolliert werden. Bereits vor dem Überfall auf Polen war die Verteilung von Feldpostnummern an alle Einheiten der Wehrmacht abgeschlossen. Die Organisation der Feldpost bewährte sich so trainiert später auch unter schwierigsten Verhältnissen und zeigte sich auch neuen Problemen gewachsen. Bei den ab 1944 zunehmend ungeordneter werdenden Rückzügen der Wehrmacht wurde sie zwar beeinträchtigt, funktionierte aber bis zum Kriegsende auch in den bombardierten Großstädten hinreichend gut. Dafür sorgten unter Leitung des Heeresfeldpostmeister, Karl Ziegler, Mitarbeiter in ca. 400 Feldpostämtern, deren Anzahl von 7.000 bei Ausbruch des Krieges rasch auf 12.000 aufgestockt wurde. Alle privaten Feldpostsendungen, wie Postkarten und Briefe und Luftfeldpost wurden gebührenfrei befördert. Jeder Soldat erhielt auf Wunsch pro Woche zudem zwei Feldpostkarten kostenlos. Die Zensur der Feldpost war einheitlich geregelt und wurde durch besondere Prüfstellen ausgeführt. Das Öffnen der Briefe wurde durch einen Stempel kenntlich gemacht. Das Briefgeheimnis war in Deutschland offiziell aber bereits nach dem Reichstagsbrand 1933 aufgehoben worden.

 

Nach 1945 gab es Feldpost in Deutschland nur noch als historisches Dokument. Dass Feldpost als Eventualfall auch im Kalten Krieg gedacht wurde, ist gesichert lediglich für die DDR feststellbar. Im normierten Sturmgepäck mussten NVA-Soldaten Stift, Briefumschläge und Briefpapier einpacken. Für die Bundesrepublik ist ähnliches nicht als zwingend bekannt. Einmalig wurden 1968 vor dem Einmarsch der Truppen des Warschauer Vertrages in die ČSSR, an dem die DDR allerdings nicht teilnahm, trotzdem an in Bereitschaft liegende NVA-Einheiten Feldpostnummern ausgegeben. Feldpost geschrieben wurde jedoch nie.

 

Seit einigen Jahren nun gibt es sie wieder: aktuelle Feldpost. Bundeswehrangehörige schrieben nach 1990 von Beobachtungs-, aber auch von Kriegseinsätzen aus Somalia, Kuwait, Jugoslawien oder Kambodscha. Aktuell kommt deutsche Feldpost aus Afghanistan, vom Balkan oder vom Horn von Afrika. Erneut hat sich in der Kommunikation ein bedeutender Wandel vollzogen: vom Brief zur Email.

 

 

Feldpost - eine Mentalitätsgeschichte

 

Da bis zum 19. Jahrhundert nur ein geringer Teil der Bevölkerung wirkliche Kompetenzen beim Lesen und Schreiben besaß, sind von einfachen Soldaten kaum Briefe übermittelt. Auch war das öffentliche Interesse an ihnen gering. Erst ab ca. 1900 kann von einer nahezu vollständigen Alphabetisierung ausgegangen werden. Zunehmend fanden Briefe, die in Zeitungen und Zeitschriften abgedruckt oder gar in Büchern veröffentlicht wurden, allgemeines Interesse. Diese Briefe sind fast immer eine Mischung aus militärischen Informationen und privaten Mitteilungen und stammen fast ausschließlich von adligen Offizieren oder wenigen Armeeangehörigen des gehobenen Bürgertums. Im 19. Jahrhundert, insbesondere nach dem Deutsch-Französischen Krieg gab es eine umfangreiche Anzahl von Kriegsdarstellungen, die sich auch an breitere Bevölkerungsschichten wandten. Zur Feier und Würdigung der siegreichen Feldzüge gab es prächtige Buchausgaben. Dort kamen Heerführer und natürlich „seine Majestät“ zu Wort, zur Betonung des Authentischen häufig in Briefauszügen. Ein schwülstig-vaterländischer Ton war damals der übliche. Immerhin waren der König und somit auch seine Post von „Gottes Gnaden“. Diese „Feldpost“ war öffentlich. Sie wurde verfasst im Bewusstsein, dass viele Untertanen die Briefe, eigentlich eher Verlautbarungen, lesen würden und sollten. Die Kriegsdarstellungen, stets eine Mischung aus peniblen militärischem Bericht, patriotisch geprägtem Brief, historischer Dokumentation und Interpretation, wurden in den Zeitschriften bezeichnenderweise unter der Rubrik „Literatur“ rezensiert.

Buchausgaben allein mit Feldpostbriefen gab es erst Ende des 19. Jahrhunderts. Eine der ersten, Die Kriegsbriefe aus den Jahren 1870/71 von Hans von Kretschmann, erschienen in zahlreichen Auflagen. Kretschmann war weiland – natürlich – General. Der Band wurde allerdings erst Jahrzehnte später von seiner Tochter herausgegeben.[2] Ob, und wenn ja wie weit sie in die Texte eingegriffen hat, ist unbekannt. Angesichts der gängigen Publikationspraxis kann man wohl von Bearbeitungen ausgehen. Bei Kretschmann jedenfalls wird ab der siebten Auflage 1910 vermerkt, sie sei „vermehrt und verbessert“.

Eingang fand die Feldpost von Soldaten und Unteroffizieren in Publikationen, wenn sie als Beispiele für die „vaterländische Gesinnung“ des Volkes in nationale Zusammenhänge kommentierend eingeordnet werden konnte. Auch diese Texte wurden unzweifelhaft zumindest stilistisch bearbeitet. So lesen sich die 1886 erschienenen Betrachtungen eines „alten Soldaten“ über Leistungen der Norddeutschen Feldpost[3] des Obristen H. v. Wulffen eher wie eine Erzählung Adalbert Stifters, denn als historischer Bericht. Um seine durchaus richtige These zu untermauern, „Die Feldpost hat dem deutschen Heere 1870/71 wesentlich mit zu den errungenen Siegen verholfen!“, zitiert Wulffen aus ihm vorgeblich zugänglich gemachten Feldpostbriefen und entwickelt daraus eine zumeist patriotische Geschichte, die er fortentwickelt, da er Empfänger oder Verfasser nach dem Kriege besucht. Somit entsteht ein kleines (militärisches) Sittengemälde der Kaiserzeit.

 

Die Feldpost als historische Quelle ist erst Anfang des 20. Jahrhunderts in das Blickfeld von Forschern geraten. Es waren in Deutschland übrigens nicht Historiker, die sich als Erste um eine breite Sammlung und Archivierung von Feldpost bemühten, sondern Volkskundler. Heute sind es besonders Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaftler, die sich mit der Thematik befassen. Der Ansatz der Volkskundler noch vor dem Ersten Weltkrieg, sich Briefen des „einfachen Mannes“ zuzuwenden, war damals durchaus modern, geprägt von den sozialen Veränderungen der Gesellschaft. Auch die unteren sozialen Schichten produzierten jetzt relevante schriftliche Texte. Moderner Krieg ist ein Massenkrieg. Es entsteht die Massenpost. Feldpost, das ist nun hauptsächlich Privatsache. Der Erste Weltkrieg hat generell einen wesentlichen Anteil an der Durchsetzung des Briefes als Informationsmedium im privaten Verkehr. Während des Krieges kam es auch zu einem bis dahin ungekannten Umfang von Veröffentlichungen der Feldpostbriefe in Zeitungen, Broschüren und Büchern. In der Weimarer Republik mit ihren politischen Wirren und Auseinandersetzungen gab es ein breites Interesse an diesen Texten, das durch Sammelbände bedient, aber auch teilweise erst geweckt wurde. Am bekanntesten wohl der Band Kriegsbriefe gefallener Studenten[4]. Er erlebte mehrfach veränderte Auflagen, die wohl bekannteste erschien 1928. Hier lassen sich sinnfällig Grund und Zielrichtung solcher Publikationen festmachen. Sie dienten vornehmlich der patriotischen Erziehung – oder Erbauung. Die Briefe wurden sorgsam ausgewählt, um einem deutschnationalen Weltbild zu entsprechen, um politische Positionen in der Gegenwart zu besetzen und zu legitimieren. Mit der tragischen Erinnerung an die Opfer des Ersten Weltkrieges wurde nicht zuletzt der Boden für den Zweiten bereitet. Dass dieses Thema nicht nur in Deutschland relevant war, ist an den Übersetzungen des Romans u. a. ins Niederländische, Englische und Dänische abzulesen. Die Kriegsbriefe erreichten durch ihren gehobenen, emotionalen, oft pathetischen Stil und die geradezu literarischen Dimensionen breite Akzeptanz.

Eine Besonderheit sind die Kriegsbriefe gefallener deutscher Juden,[5] die mit einer Titel-Zeichnung von Max Liebermann in mehreren Auflagen 1935 erschienen. Auch dieser Band ist von vaterländischen Gedanken geprägt, sicher um angesichts des bedrohlichen Antisemitismus die „Normalität“ jüdischer Mitbürger zu betonen. Geradezu beschwörend das Motto auf der ersten Seite: „Wir starben für Deutschland!“

Einen Höhepunkt, oder besser gesagt: Tiefpunkt bedeutete die Aufnahme von Kriegsbriefen durch die NS-Propaganda, die die Funktionalisierung der Texte perfektionierte. Nicht nur in Büchern, sondern auch den Medien der Massenkommunikation, Zeitungen, Zeitschriften und dem Rundfunk nahmen Briefe bei der Darstellung der Kriegsereignisse einen besonderen Platz ein. Nach 1939 konnten die historischen Texte des Ersten Weltkrieges durch zeitgenössische ersetzt werden. Die angeblich authentischen Dokumente, der Leser konnte ja die Quelle nie verifizieren, sollten für die Wahrheit der Propaganda zeugen. Und sie verfehlten wohl dieses Ziel meist nicht. Je deutlicher die Niederlage absehbar war, um so mehr wurden Feldpostbriefe in Zeitungen publiziert –  Briefe getragen von einem Durchhaltewillen, den man den Propagandisten scheinbar nicht mehr abnahm.

Die ersten Leser von Feldpost waren neben den eigentlichen Empfängern die Mitarbeiter der Zensurstellen. Ihre Analysen flossen u. a. in die Berichte des SD, dem Sicherheitsdienst der SS, ein. Nur für den internen Zirkel der Macht gedacht, geben die Meldungen aus dem Reich[6] einen recht wirklichkeitsnahen Zugang zur Stimmungslage der Bevölkerung. Die Zensur wird in vielen Interpretationen von Feldpostbriefen überschätzt. Die Zensurbehörden wollten zwar unerwünschte Informationen unterdrücken, doch durften sie nicht allzu deutlich in Erscheinung treten. Zum einen, da sie die Feldpost eben als Stimmungsbarometer nutzen wollten, zum anderen, da man die für die psychische Stabilität der Soldaten so wichtige Brücke zur Familie nicht beschädigen durfte und wollte. Im Regelfall trat die Feldpostzensur offen in Erscheinung und sollte bereits im Vorfeld durch Abschreckung wirken. Manchmal arbeitete die Zensur aber auch eher subtil. Aus den Berichten der Feldpostprüfstelle, die die sensible Post aus dem Stalingrader Kessel bearbeitete, geht z. B. hervor, dass man „sehr großzügig“ verfuhr.[7]

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg erschien, wie nach dem Ersten, in der Bundesrepublik 1952 ein Band Kriegsbriefe gefallener Stundenten, mit ähnlicher ideologischer Ausrichtung.[8] Nach 1945 spielten bei der Deutung des Erlebten wiederum Feldpostbriefe eine bedeutende Rolle. Es ging um eine Selbstverständigung der Kriegsgeneration über das gemeinsam Erlebte und Erlittene, seltener um das Verübte. Zu Zeiten des Kalten Krieges wurden in Ost wie West ausgewählte Texte in den politischen Diskurs eingebaut. Und waren nicht die „richtigen“ Texte zur Hand, wusste man ebenfalls Abhilfe. Es hat lange gedauert, bis sich bspw. die Erkenntnis durchsetzte, dass der damals populäre, in mehreren Auflagen erschienene Band Letzte Briefe aus Stalingrad eine Fälschung war.[9] Nicht gefälscht hingegen, aber aus einer Vielzahl sorgsam entsprechend seiner Intention ausgewählt, sind die Briefe die Erich Weinert in seinem Fronttagebuch Memento Stalingrad verwendete.[10]

 

Vom Anbeginn der Zeiten wurden Kriege nicht nur von Männern geführt, sondern auch beschrieben, erzählt und vermittelt. Der Krieg ist schließlich der Vater aller Dinge. Feldpostbriefe sind im allgemeinen Bewusstsein Briefe von Soldaten. Weibliche Stimmen gab es von der so genannten Heimatfront. Die Erfahrungswelten „Front“ und „Heimatfront“ werden in allen Briefanthologien deutlich geschieden. Doch diese Trennung entspricht so nicht der Realität. Es gab sie vieltausendfach in den sieben Kriegsjahren: Wehrmachts-, Marine- und Nachrichtenhelferinnen – und vor allem Krankenschwestern an der Front, in Hörweite der Geschütze. Besonders bei den Rückzügen ab 1943 gerieten sie oft in unmittelbare, gefährliche Nähe zum „Feind“. Lediglich eine kleine, wenig beachtete Anthologie von Schwesternbriefen mit propagandistischer Funktion erschien im Dritten Reich 1940, herausgegeben von der Generaloberin des DRK, Luise von Oertzen.[11] Allerdings sind alle Zeit- und Ortsangaben der Briefe so vage, die Texte stilistisch auf hohem Niveau so einheitlich, die Angaben von Fakten so bemüht korrekt, dass man hier wohl kaum von authentischen Briefen ausgehen kann. Erst seit wenigen Jahren wird die Feldpost von Frauen in der Forschung überhaupt beachtet.[12]

 

Anfang der 80erJahre des 20. Jahrhunderts wurde die Feldpost als Quelle quasi wieder entdeckt. Es gab den bemerkenswerten Neuansatz einer Geschichte „von unten“. Erstmals sollten einfache Soldaten unverstellt zu Wort kommen, sollte deren Erlebniswelt und Lebenswirklichkeit im Krieg untersucht werden. Dieser Neuansatz vollzog sich unabhängig, mit unterschiedlicher Intensität sowohl in Deutschland Ost wie West und markiert den Beginn wirklicher Feldpostforschung im wissenschaftlichen Sinne. Es entstanden in der Folge sachkundige Analysen, seriöse und ausgewogene Sammelbände von Feldpost, wie Das andere Gesicht des Krieges, die Maßstäbe setzten, die meisten in der BRD.[13] In der DDR war der geistige Zugang zur Feldpost schwieriger, nicht nur wegen restriktiver Publikationsgenehmigungen. Hier standen alle Wehrmachtsangehörigen, selbst die am Aufbau des Sozialismus beteiligten Generale, Offiziere und Soldaten des Nationalkomitees Freies Deutschland unter Generalverdacht als willige Mitglieder einer verbrecherischen Armee. Die Briefe des Soldaten Helmut N.[14] aus dem Aufbau-Verlag galten daher 1988 als Sensation, da sie die Ideenwelt eines der NS-Ideologie nahe stehenden Soldaten ohne den üblichen Wandlungsmythos ernst nahmen.

 

Der Neuansatz Anfang der 80er Jahre war auch ein medienwissenschaftlicher      Paradigmenwechsel. Nun rückte ins Zentrum des Interesses, was bislang, erstaunlich genug, weniger bekannt und erforscht war, nämlich was die Soldaten in ihren Briefen nach Hause schrieben und was ihnen wiederum in den Briefen von zu Hause erzählt wurde. Obwohl es schon lange publizierte Sammlungen von Feldpost gibt, die Bedeutung der Feldpost als Quelle von Erkenntnissen zur Mentalitäts-, Kultur- und Alltagsgeschichte breiter Bevölkerungsschichten ist so alt nicht. Feldpostbriefe bergen daher viel Unbekanntes im scheinbar Bekannten. Sie berichten über eine dem heutigen Leser unbekannte Realität. Doch auch schon bei den Zeitgenossen ließen sich die Lebenswirklichkeiten zwischen Front und „Heimatfront“ nur schwer zu vermitteln. Wer heute etwas über den Krieg aus den Briefen erfahren will, sieht sich im ersten Moment nur allzu oft enttäuscht. Das Lesen der Berichte macht manchmal hilflos. Man ist verwundert, über das, was beschrieben wird und was nicht und darüber wie  beschrieben wird. Art und Weise der Mitteilungen und das Fehlen und Glätten bestimmter Informationen wird meist mit Zensur und Selbstzensur erklärt, doch das greift zu kurz. Sie sind nur ein Grund für das Verschweigen oder Umdeuten von Erlebtem. Vieles wird bewusst, aber noch mehr unbewusst verdrängt. Vieles wollten sich die Soldaten selbst nicht klar machen und scheuten deshalb, es aufzuschreiben. Vieles steht zwischen den Zeilen. Auch Formen der Selbstinszenierung spielen hinein. Das allerdings ist kein Spezifikum des Schreibens im Krieg. Das Leben im Krieg ist mit dem Vokabular des Friedens nur bedingt mitzuteilen. Erlebnisse, darauf weisen Kulturwissenschaftler hin, werden zu Erfahrungen erst, wenn sie verschriftlicht bzw. kommuniziert werden. Dazu ist es notwendig, sie mit früheren Erlebnissen, also aus Friedenszeiten, zu verbinden, sie gleichsam einrasten zu lassen in bestehende Lebensmuster.

Der Krieg bzw. das Leben im Krieg wird meist nur da ausführlich beschrieben, wo es sich mit den aus Friedenszeiten bekannten Vorstellungen, Erfahrungen und Werten formulieren lässt. In den Briefen erscheint der Krieg oft als die Fortsetzung des Lebens im Frieden unter anderen – schwereren, unangenehmeren, gefährlicheren – Bedingungen. Es scheint, dass der Krieg, sofern er sich mit Werten aus der Arbeitswelt in Friedenszeiten artikulieren lässt, z.B. Fleiß, Ausdauer, Durchhalten, Pflicht, Gehorsam, Unterordnung, durchaus angenommen wird. Allgemein ist zu beobachten, dass die Kriegswirklichkeit nur fragmentarisch beschrieben wird. Es dominieren Themen wie Post, Kälte, Hunger und Läuse sowie persönliche Probleme aus dem Familien- und Freundeskreis. In vielen Briefen ist der Krieg überhaupt nicht präsent. Über militärische Kämpfe wird nur sehr selten und zurückhaltend berichtet.

Der Krieg erscheint in den Briefen mitunter sogar als positive Gegenwelt, als Möglichkeit, dem ungeliebten Trott des Alltags, einer provinziellen Heimat oder einer sozialen Deklassiertheit zu entfliehen. Frontsoldaten beschreiben, wie sie ihren Bunker „gemütlich“ einrichten. Teilweise schwingt „Abenteuerromantik“ in den Berichten mit. Der Krieg wurde nicht selten als ein aufregendes Leben jenseits bürgerlicher Normen erlebt. Viele Soldaten sahen durch die Wehrmacht zum ersten Mal fremde Länder.

 

Wenn man die beschriebene Erlebniswelt nicht abqualifiziert, sondern sie mit heutigen Kenntnissen verbindet, die subjektiven Aussagen der Zeitzeugen in ein historisches Koordinatensystem einbettet, können Erkenntnisse gewonnen werden, wie Kriege an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten, die Menschen geprägt haben, welche Wertvorstellungen und Deutungsmuster handlungsanweisend funktionierten. Dazu müssen nicht selten die oberen Schichten der Texte, z.B. die des vermeintlich banalen Erzählens gleichsam abgetragen werden, um in die Tiefenstruktur des Mitgeteilten eindringen zu können.

 



[1] Akten im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin

[2] Die Kriegsbriefe aus den Jahren 1870/71 von Hans von Kretschmann. Berlin: G. Reimer, 1903

[3] Betrachtungen eines „alten Soldaten“ über Leistungen der Norddeutschen Feldpost während des Krieges mit Frankreich 1870 – 71 von H. v. Wulfffen, Berlin: Richard Wilhelmi, 1886

[4] Phillip Witkop (Hg.). Kriegsbriefe gefallener Studenten. München: Georg Müller, 1928

[5] Kriegsbriefe gefallener deutscher Juden. Berlin: Vortrupp, 1935

[6] Heinz Boberach (Hg.). Meldungen aus dem Reich. Auswahl aus den geheimen Lageberichten des Sicherheitsdienstes der SS 1939 – 1944. Neuwied u.a.: Luchterhand, 1965

[7] Bundesarchiv-Militärarchiv, RW 4/v. 264 (WF-01/2153, Bl. 8083)

[8] Walter und Hans Bähr (Hg.). Kriegsbriefe gefallener Studenten. Tübingen, Stuttgart: Wunderlich, 1952

[9] Letzte Briefe aus Stalingrad. Frankfurt a.M., Heidelberg: Quadriga, 1950; spätere Auflagen bei Bertelsmann; Publizierte Authentische Briefe: Jens Ebert (Hg.) Feldpostbriefe aus Stalingrad. Göttingen: Wallstein, 2003

[10] Erich Weinert Memento Stalingrad. Berlin (DDR): Volk und Welt, 1951

[11] Schwesternbriefe von allen Fronten. Berlin: Deutsches Rotes Kreuz, 1940

[12] Birgit Panke-Kochinke, Monika Schaidhammer-Placke. Frontschwestern und Friedensengel. Kriegskrankenpflege im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Ein Quellen- und Fotoband. Frankfurt am Main: Mabuse, 2002L; Jens Ebert, Sibylle Penkert: Brigitte Penkert. Briefe einer Rotkreuzschwester von der Ostfront. Göttingen: Wallstein, 2006

[13] Ortwin Buchbender, Reinhold Sterz. Das andere Gesicht des Krieges. Deutsche Feldpostbriefe 1939-1945. München: Beck, 1982

[14] Briefe des Soldaten Helmut N. Berlin (DDR): Aufbau, 1988