Quod non est in actis, non est in mundo
von Clemens Schwender und Jens Ebert
Was nicht in den Akten ist, ist nicht in der Welt. Die Sensibilisierung für diese Frage nach dem Individuum gehört zum Repertoire einer Geschichtswissenschaft, die auf der Suche nach Wirklichkeit präzisere Antworten finden will. In diesem Zusammenhang waren Privatkorrespondenzen historisch bedeutsamer Persönlichkeiten schon immer ein beliebtes Objekt der Forschung. Ungewöhnlich ist die Tatsache, dass in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg eine der wertvollsten Quellen für die Innenansicht eines Systems sehr spät von vielen Wissenschaftsdisziplinen in ihrem Wert erkannt worden ist: Kriegs- oder Feldpostbriefe. Soldaten schreiben an ihre Angehörigen – Angehörige schreiben an die Soldaten im Feld.
Nicht nur die moderne Geschichtsschreibung stimmt eine andere Tonlage an und sieht sich im Einklang mit Bertolt Brechts berühmtem Gedicht Fragen eines lesenden Arbeiters, wo es heißt:
Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte
Untergegangen war. Weinte sonst niemand?
Friedrich der Zweite siegte im Siebenjährigen Krieg. Wer
Siegte außer ihm?
Die einfachen Soldaten sind die kleinen Rädchen im Räderwerk der Geschichte. Auch sie haben Spuren hinterlassen: Eine immense Menge an Postsendungen sind während des Zweiten Weltkrieges auf deutscher Seite versandt worden. Zugänglich ist nicht einmal ein Bruchteil davon. Diese bedeutsame Geschichtsquelle für die gesellschaftlichen Innenansichten einer aus den Fugen geratenen Zeit ist zwar mittlerweile in ihrem Wert erkannt, aber noch wenig erschlossen. Feldpost- und Lebensdokumente aus dem Zweiten Weltkrieg werden bislang kaum systematisch in öffentlichen Dokumentationsstellen archiviert. Das meiste dürfte noch in privaten Haushalten zu finden sein, ständig von der Gefahr bedroht, bei nächster Gelegenheit entsorgt zu werden. Langsam reift das Bewusstsein, dass diese exklusiven Quellen gerettet werden müssen. Von einer zielbewussten Bearbeitung kann bislang keine Rede sein.
Der Blick auf die Briefe hat sich geändert: Es waren zunächst hauptsächlich Philatelisten und andere an Postgeschichte interessierte Gruppen die sich für Standards, Organisation und Besonderheiten der Transportwege interessierten. Erst seit Ende der 70er Jahre richtete sich der Blick in den Umschlag hinein auf die geschriebenen Dokumente und deren Inhalte. Diese werden seither immer wieder neu befragt, da sich auch immer wieder die Erkenntnislage und die Erkenntnisinteressen verändern. Die erste Veröffentlichung mit wissenschaftlichem Interesse zum Thema stammt von Ortwin Buchbender und Reinhold Sterz. Unter dem Titel Das andere Gesicht des Krieges veröffentlichten sie Auszüge aus Feldpostbriefen. Grundlage bildete die Privatsammlung von Reinhold Sterz, die heute in der Landesbibliothek Stuttgart einzusehen ist. Bis vor kurzem war es nahezu die einzige Sammlung, die einen Umfang aufwies, der umfassende Beantwortungen auch komplexer Fragestellungen erlaubte. Eine weitere Privatsammlung von Bedeutung ist die von Walter Kempowski, die seit dem Tod des Schriftstellers im Archiv der Akademie der Künste aufbewahrt wird.
Das Gemeinschaftsprojekt Feldpost-Archiv Berlin ist eine Zusammenarbeit des Museums für Kommunikation Berlin, das für die Archivierung zuständig ist, und einer Gruppe aus Beratern bestehend aus Historikern und Medien- und Kommunikationsexperten, die die wissenschaftliche, pädagogische und kulturelle Nutzung der Archivalien unterstützen. Erstmals werden hier Selbstzeugnisse aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges systematisch gesammelt und für eine wissenschaftliche Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Bei allen Sammlungen muss man die Frage stellen, wie diese zustande kamen. Was ist die Motivation derjenigen, die die Briefe aufbewahrt hatten, anstatt sie zu entsorgen.
Eine erste Vermutung dafür ist, dass es sich bei Feldpostbriefen um emotional bedeutsame Kommunikate handelt. Im Falle des Heimgekehrten sind die Angelegenheiten, die in den Briefen thematisiert wurden, weitergeführt und schließlich erledigt. Bei Gefallenen und Vermissten hingegen ist zu erwarten, dass die Gedenkkultur eine andere ist. Sicher sind die benannten Inhalte durch die Zeit ebenfalls erledigt, aber die Briefe sind Zeugnis der Person und persönliche Dokumente der Beziehung, die durch den gewaltsamen Tod nicht auf natürliche Weise beendet wurde. Auch die Inhalte der Briefe selbst geben Anlass, das Gedenken auf besondere Weise zu bewahren.
Erste Indizien für eine unterschiedliche Gedenkkultur bestätigen statistische Auswertungen der Konvolute und deren Eintragungen in einer Datenbank: Von 770 zum Zeitpunkt der Auswertung (April 2008) in der Feldpostsammlung erfassten Konvolute gibt es 471 Angaben zum Verbleib: 68,2 % sind gefallen, durch andere Kriegseinwirkungen verstorben oder vermisst. Nach Hochrechnungen von Rüdiger Overmans[3], der ein repräsentatives Sample der 17 Millionen Karteikarten der Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht (WASt) auswertete, sind 28 % der Soldaten von Wehrmacht, Heer, Luftwaffe, SS oder Mitglieder von Reichsarbeitsdienst, Organisation Todt, Polizei, Zoll, Reichsbahn, Reichspost und schließlich Volkssturm nicht nach Hause zurückgekehrt. Laut Overmans sind 5,318 Millionen Soldaten gefallen. Aber statt der erwarteten unter 30 % Gefallener ist ihr Anteil unter den Konvoluten im Feldpostarchiv Berlin doppel so hoch. Der deutlich erhöhte Anteil an Briefe von Gefallenen lässt sich damit klar als erstes Indiz für deren außergewöhnliche emotionale Bedeutung werten.
Der Blick auf den Inhalt
Die militärischen Operationen und die politischen Entscheidungen des Zweiten Weltkriegs sind hinlänglich bekannt und mannigfaltig dokumentiert. Trotzdem bleiben Fragen zur bedrückenden Stabilität und zur Effizienz des totalitären Systems unbeantwortet. Neue Fragen kommen hinzu, weil sich der Umgang mit der Vergangenheit wandelt. Mentalität und Erfahrung, Psychologie und Soziologie, Kommunikation der Massen, Moral und Ethik, Gesellschaftsstruktur und Überlebensstrategien sind die Felder, über die heute nachgedacht wird.
Über den Zweiten Weltkrieg als militärisches Ereignis wird man aus den Feldpostbriefen kaum Neues erfahren. Die Briefe, die zwischen Front und Heimat gewechselt wurden, haben andere Werte. Feldpostbriefe sind fixierte Alltags-Kommunikation. Damit geben sie Einblicke in das Befinden der Betroffenen, in die Auseinandersetzungen und Diskurse des täglichen Lebens in einer aus den Fugen geratenen Zeit.
Eine Ehe wird für lange Zeit eine Ehe auf Papier – auf Briefpapier. Für gewöhnlich gehen Alltagsgespräche verloren, doch aus dieser Zeit ist Alltag auf Papier festgehalten: Der Klatsch und Tratsch der Familie, die Arbeit, die Besorgungen, auch das Private und Intime, nicht zu vergessen die Not und das Elend des Krieges. Immerhin war der Feldpost-Brief in jenen Tagen nahezu das einzige Medium der Individualkommunikation, das Soldaten mit ihrem familiären und sozialen Umfeld zu Hause verband.
Befördert wurden Briefe, Karten, Päckchen und Telegramme durch die Organisation der Feldpost. Ab und zu konnten andere Soldaten, die auf Heimaturlaub fuhren oder von dort kamen, das Eine oder Andere mitnehmen, was nebenbei auch den Effekt hatte, dass die Zensur umgangen wurde. Die handschriftliche Aufschrift „Feldpost“ auf dem Umschlag reichte generell zur kostenfreien Beförderung aus. Allerdings beschränkten kriegsverlaufsbedingte Kontingentierungen die Beförderung zeitweise oder lokal.
Die vier Welten
Die lange Trennung der weit von der Heimat eingesetzten Soldaten, die in Einzelfällen mehrere Jahre andauern konnte, schuf nicht nur kommunikative Probleme. Es fehlten zunehmend gemeinsame Referenzen, über die sich die Partner hätten austauschen können. So lassen sich vier Welten identifizieren, in denen die Briefpartner lebten: Da war zunächst die Welt des Soldaten, die aus der Front oder der Etappe bestand, da war die Heimat, in der die Familien und Partner waren, da waren Zukunft und Vergangenheit, auf die immer wieder verwiesen wurde, da die Gegenwart fehlte und da war schließlich die Welt der Medien, die doch so etwas wie ein gemeinsames synchrones Erleben suggerierte.
1. Die Welt der Front
Die Welt der Front war die Welt des Soldaten. Es war die Welt, die sicher am schwersten zu vermitteln war. Vielfältige Gründe sind dafür verantwortlich. Die Kommunikation der Soldaten war am ehesten von Zensur bestimmt. Von den Bestimmungen waren in erster Linie nicht ideologische Äußerungen betroffen, sondern zunächst sollten militärisch sensible Daten vor der gegnerischen Kriegspartei geheim gehalten werden, falls die Post in Feindeshand fallen sollte. So war es verboten, über militärische Ziele, über Kampfhandlungen, über Art und Zustand der Bewaffnung und anderer Ressourcen zu berichten oder Namen von Kameraden oder Vorgesetzten zu nennen. Nicht einmal der aktuelle Aufenthaltsort durfte nach Hause übermittelt werden. Das Bedürfnis der Angehörigen nach dem Wissen um das Wohl und Weh der Partner wurde immer wieder in Briefen geäußert.
2. Die Welt der Heimat
Offensichtlich ist zunächst, dass die Briefe aus der Heimat weniger von Zensur bestimmt waren. Zwar wurden auch diese Briefe stichprobenartig kontrolliert, doch es gab militärisch im Grunde nichts zu verbergen, die Angriffe durch alliierte Bomber waren offensichtlich und wurden über Rundfunk soweit wie möglich angekündigt.
Die Welt der Heimat war dem Soldaten an der Front bekannt. Er war zumeist unfreiwillig aus Familie und sozialem Umfeld heraus gerissen. Er hatte den Wunsch, an dieser Welt weiter Teil zu nehmen. Immer wieder stellte er Fragen und forderte damit zur Kommunikation auf. Das Medium Brief erlaubte trotz der räumlichen Trennung, dass der Mann weiter am Diskurs beteiligt war. Hier war es möglich, dass die Briefe viele Details zur Situation von Familie und Besitz enthalten. Der Brief musste mitunter die unmittelbare Erfahrung ersetzen.
Briefe sind Individualmedien. Sie dienten als Feldpostbriefe auch der Kommunikation zur Organisation von Familie und Beziehung. Auch Klatsch und Tratsch gehörten dazu. Diese Funktionen konnten die Feldpostbriefe, die aus der Heimat geschrieben wurden, besser erfüllen als die Briefe, die in umgekehrte Richtung gingen. Die Personen und Orte waren Sendern und Empfängern bekannt.
Durch die schriftliche Kommunikation war der Mann, der weit entfernt war, an persönlichen Informationen beteiligt. Zwar konnte er nichts dazu beitragen, denn eigene Erfahrungen fehlten im privaten Kontext, doch er war nicht ausgeschlossen. Es ist ein Merkmal von Beziehung, dass man am Klatsch und Tratsch beteiligt ist. Solange der Mann die kleinen Dinge aus dem Alltag erfährt, solange weiß er, dass er weiterhin zur sozialen Gruppe gehört.
Die Welt der Heimat war zudem noch gekennzeichnet durch ein Phänomen, das man umschreiben könnte mit „Täglich warten auf Post“. Zweimal täglich kam die Briefträgerin und ebenso oft hofften die Angehörigen auf Lebenszeichen von der Front. Sie tauschten sich aus und Bekanntschaft und Nachbarschaft nahmen teil an der Freude, wenn ein Brief kam und an der Enttäuschung, wenn er ausblieb. Oft – wenn es der Inhalt zuließ – wurden die Briefe auch wechselseitig gelesen. Da viele in vergleichbaren Situationen waren, war das Verständnis groß.
3. Vergangenheit und Zukunft
Beziehungen, die über briefliche Kommunikation aufrechterhalten werden, haben eine Vergangenheit und eine erhoffte Zukunft. Sie sind auf eine unbestimmte Zeitspanne angelegt und trotz der Trennung auch nicht beendet, aber auf eine harte Probe gestellt. Da sich Partnerschaften über Kommunikation bestimmen, dient diese dazu, die Trennung zu überbrücken. Das Problem ist, dass Liebe, die sich nicht durch gemeinsame Erlebnisse verwirklichen kann, nur in großem Vertrauen lebendig gehalten werden kann. Die Erinnerungen an gute alte Zeiten und die Hoffnungen auf bessere werden als Argumente genutzt, die Freundschaft trotz der derzeitigen Trennung nicht aufzugeben. Da eine gemeinsame Gegenwart fehlte, musste die Referenz auf Vergangenes trösten. Die Erinnerung wurde bemüht, um das Leid der getrennten Gegenwart zu lindern.
4. Propaganda und Medien
Mithin waren Medienereignisse die einzige Möglichkeit, neben dem Urlaub und den Briefen aktuell Gemeinsames zu erleben und von den getrennten Welten an Front und Heimat unabhängige Erfahrungen zu machen. Spielfilme aus Babelsberger Produktion liefen nicht nur in den Kinos der Heimat, sondern dienten an vielen Orten, wo deutsche Soldaten stationiert waren, dem Zeitvertreib und der Zerstreuung. Zeitungen, Zeitschriften und Bücher (etwa die Feldpost-Reihe des Bertelsmann-Verlags) konnten überall hin verschickt werden und wurden von den Soldaten begierig aufgenommen. Die Teilnahme am öffentlichen Diskurs war somit möglich. Das Radio war das einzige Live-Medium, das an allen Abschnitten der Front und zu Hause zeitgleich gehört werden konnte. Das Empfinden der synchronen Rezeption verband die Getrennten. Besonders zu erwähnen ist die Rundfunk-Sendung Wunschkonzert, wo Zuhörer und Zuhörerinnen gegen eine kleine Spende Musikwünsche äußern und Grüße übermitteln konnten. In vielen Briefen finden sich Erwähnungen. Immer wieder wird gefragt, ob der Partner oder die Partnerin eine bestimmte Passage auch gehört habe.
Hervorzuheben im sonstigen Radioprogramm sind die Reden der Führungsschicht des Dritten Reiches. Sie machten Angebote für Sinnentwürfe und Interpretationen der aktuellen militär-politischen Lage. Hier konnten sich die Kommunikationspartner bedienen.
Neben dem Effekt, dass durch Medienereignisse synchrones Erleben möglich ist, spielt der Aspekt des ästhetischen Urteils für Beziehungen eine wichtige Rolle. Zwar hat jeder und jede eine mehr oder minder eigene Einschätzung und ein eigenes Urteil, die Auseinandersetzung darüber ist aber sehr wichtig und hat an der Alltagskommunikation einen erheblichen Anteil. Ästhetische Urteile sind spontane Begutachtungen von Wahrnehmungen. Sie dienen dazu herauszufinden, ob der Partner die Welt ähnlich sieht. Ähnliche Einschätzungen verhindern langwierige Interessensabgleiche. Je mehr sich Partner im ästhetischen Urteil angleichen, desto weniger Auseinandersetzungen sind zu erwarten und desto einfacher ist die Kooperation. Wechselseitige Bestätigung der gemeinsamen Haltung ist ein wichtiger Teil der Kommunikation innerhalb einer Partnerschaft. Da nur gemeinsame Wahrnehmungen dazu dienen können, Einschätzungen abzugleichen, haben Medienereignisse eine große Bedeutung.
Das Medium Feldpostbrief brachte in der ästhetischen Diskussion einen System stabilisierenden Effekt mit sich: Die Debatte über eine sich verändernde Einstellung war äußerst schwierig. Im mündlichen Gespräch, das Argumente auch testweise ausprobieren kann, werden Haltungen präsentiert und wenn sie nicht in der gewünschten Weise ankommen, auch wieder spontan revidiert. Im Gegensatz dazu legt die Schriftlichkeit eher fest. Das geschriebene Wort wiegt schwerer. Hinzu kommen weitere Einschränkungen: Die Transportwege waren lang und ungewiss. Die Briefe kamen nicht immer in der Reihenfolge an, in der sie abgeschickt wurden. Auseinandersetzungen oder gar Streitigkeiten waren durch die Bedingungen des Mediums erschwert. So war es allemal einfacher, den einmal eingeschlagenen Weg beizubehalten, als ihn kommunikativ zu ändern. Da man nicht davon ausgehen konnte, dass der Partner seine Haltung verändert hat, war man in der schriftlichen Kommunikation bemüht, die bekannte Haltung weiter zu bestätigen. Und damit wurde das Ganze zu einem selbstreferenziellen System.
Der Krieg in den Köpfen
Basierend auf Schätzungen von noch erhaltenen Abrechnungen zwischen der Wehrmacht und der Reichspost kann man heute davon ausgehen, dass während des Zweiten Weltkrieges etwa 30 bis 40 Milliarden Sendungen mit der Aufschrift „Feldpost“ befördert wurden. Diese Aufschrift reichte generell zur kostenfreien Beförderung aus. Das Feldpost-Archiv am Museum für Kommunikation Berlin hat eine der wichtigsten und umfangreichsten Sammlungen der Bundesrepublik, die der wissenschaftlichen Forschung zur Verfügung steht. Es werden nicht nur private Kommunikationsdokumente sachgerecht aufbewahrt, zu jedem Schreiber (und zum Teil auch zu den Empfängern) werden weitere Informationen gesammelt, die für die Auswertung wichtig sind. Nicht nur Einsatzorte und Herkunft sind verzeichnet, sondern auch persönliche Daten wie Geburtsjahr, Konfession oder Dienstgrad. Damit sind grundsätzlich biografische Zugänge möglich und es öffnen sich psychologische, linguistische, soziologische und theologische Fragestellungen.
Reichhaltiges und vielfältiges Material der Forschung bereit zu stellen, ist das langfristige Ziel und bildet die Grundlage für die Sammelstrategie des Feldpostarchivs Berlin. Man darf nicht vergessen, dass die Archivlage bundesweit eher als dürftig zu umschreiben ist. Um die genannten und weitere Fragen anzugehen, bedarf es einer breiten Datenbasis. Alle Teilstreitkräfte und alle an Kriegshandlungen beteiligten Organisationen sollten im Archiv vertreten sein. Auf der anderen Seite müssen auch unterschiedliche demografische Merkmale repräsentiert sein: von hohen und niederen Dienstgraden über die verschiedenen Jahrgänge bis zu unterschiedlichen Bildungsschichten, sowie regionale, politische oder konfessionelle Hintergründe.
Wirklichkeit, Wahrheit und Zensur
Die Watzlawick-Frage: „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ ist im Zusammenhang mit der medienabhängigen Kommunikation zu stellen. Und dabei bestätigt sich die These, dass Wirklichkeit nicht die Voraussetzung für Kommunikation ist, sondern deren Ergebnis. Was wirklich war, lässt sich im Einzelnen nicht mehr feststellen und kann darum auch belanglos sein. Wichtiger ist, was die Betroffenen aus ihrer Perspektive erlebt haben und was damit Grundlage ihrer Wahrnehmung ist. Es geht um die jeweils subjektive Wahrheit.
Bei der Entscheidung, was geschrieben und was verschwiegen wurde, spielt die Zensur eine Rolle. Die Zensur war offen und jedermann wusste, dass sie praktiziert wurde. Sie war erkennbar, da die Briefe – solange keine gravierenden Verstöße geahndet wurden – wieder verschlossen und mit einem Vermerk versehen wurden, dass die Öffnung durch die Feldpostprüfstelle durchgeführt wurde. Bisweilen waren danach einzelne Passagen in den Briefen geschwärzt oder mit einer Schere ausgeschnitten. So durften keine Namen genannt werden, keine Informationen über Bewaffnung, sonstige Lage der Versorgung, keine militärischen Absichten und Einschätzungen geschrieben werden. Erst später spielten auch ideologische Dinge eine Rolle. Doch jeder Soldat wusste, wie klein die Chance bei dem immensen Aufkommen war, dass ein Brief von der Feldpoststelle geöffnet wurde.
Wenn jemand systemkonform schrieb, kann man aus heutiger Sicht davon ausgehen, dass dies der Haltung des Schreibers entsprach, denn niemand konnte ihn dazu zwingen, entsprechende Offenbarungen in der privaten Kommunikation zu tätigen. Wenn sich jemand gegen das System äußerte, kann man diese Aussagen auch ernst nehmen, denn er übte Kritik angesichts der Gefahr erwischt zu werden. Nur wenn jemand nichts Entsprechendes schreibt, ist dies nicht zu interpretieren. Tatsächlich finden sich viele systemkonforme und viele systemkritische Passagen in den Briefen, die sich interpretieren lassen.
Der Inhalt wie auch das, was nicht geschrieben wird, sind eher dominiert vom kommunikativen Bezug zum Adressaten. Was man der eigenen Mutter schreibt, wird etwas anderes sein als das, was man Freunden und Kameraden anvertraut. Geht es in einem Fall darum, Signale zu senden, die möglichst wenig Anlass zur Beunruhigung bieten, kann man in anderem Fall auch mal die eine und andere gefährliche Situation beschreiben, die man mit Wagemut gemeistert hat.
Die Schweigegrenze der Soldaten liegt bei der Vermittlung von Leiden. Dies lässt sich etwa dann belegen, wenn in den wenigen Fällen, wo dies möglich ist, Tagebuchaufzeichnungen mit den Briefen aus derselben Zeit verglichen werden können. Nach Hause sendet der Soldat Zuversicht, dem Tagebuch vertraut er die Beschwerlichkeiten und Gefahren an. Das Problem von Wahrheit und Wirklichkeit beginnt also nicht erst bei der Erinnerung, sondern bereits bei der Auswahl von Inhalt und Darstellungsweise für unterschiedliche Adressaten.
Ihren historischen Wert beziehen die Feldpostbriefe dabei aus der Tatsache, dass sie unverzerrt sind durch Erinnern und Vergessen. Arglos schreiben die Briefpartner nieder, was sie aktuell dachten und spontan empfanden und in Hinblick auf den Adressaten für mitteilenswert halten. Kein nachträgliches Zurechtrücken, kein Schönreden und kein Rechtfertigen verstellen den Blick auf die Gedanken, so wie sie damals geäußert wurden.
Was Hitler, Goebbels, Göring und andere Personen der Staatsführung an Reden von sich gaben, ist bekannt und hinlänglich erforscht. Was bislang aber kaum untersucht wurde, ist die Wirkung und die subjektive Aneignung der Propaganda. Das Problem der inneren und äußeren Zensur berücksichtigend kann man Feldpostbriefe daraufhin untersuchen, wie der Schreiber die politische und militärische Lage selbst bewertet. Sobald diesbezügliche Andeutungen als Kommunikationsangebote an den Adressaten gerichtet sind, können diese als Selbstbekenntnisse und politische Statements aufgefasst werden.
Vor allem die zentralen Ereignisse und Zäsuren des Kriegsverlaufes werden erwähnt und fließen in den schriftlichen Diskurs ein: der Frankreich-Feldzug, der Überfall auf die Sowjetunion, die Schlacht um Stalingrad, die Landung der Alliierten in der Normandie, aber auch das Attentat vom 20. Juli 1944.
Feldpost als Quelle
Feldpost gelesen, sich daraus informiert und Schlüsse gezogen, haben neben den eigentlichen Empfängern im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte viele Personen und Personengruppen.
Die Ersten waren, wie bereits erwähnt, die Angehörigen verschiedenster Zensurbehörden und Geheimdienste. Neben dem Ziel, die Verbreitung unliebsamer und gefährlicher Informationen zu verhindern, was in der Regel nicht gelang, wollten sie die Stimmungslage an der Front und in der Heimat erkunden, um gegebenenfalls politisch oder repressiv darauf reagieren zu können. Eine prominente Form der Beschäftigung mit Feldpost sind die Untersuchungen des SD, des Sicherheitsdienstes der SS. Nur für den internen Zirkel der Macht gedacht, ideologisch geprägt und nicht immer verlässlich, geben die Meldungen aus dem Reich doch einen zuweilen wirklichkeitsnahen Zugang zur Stimmungslage der Bevölkerung. Diese Analysen, die in der BRD nach dem Krieg publiziert wurden, nähern sich dem, was wir heute im weitesten Sinne unter Demoskopie verstehen. Die verschiedensten Meinungen werden prägnant umschrieben und nach ihrer Relevanz (Regionen, Ereignisse, Bevölkerungsgruppen etc.) beurteilt. Die Zensur- und Kontrollbehörden durften allerdings nicht allzu deutlich in Erscheinung treten. Zum einen, da sie die Feldpost eben als Stimmungsbarometer nutzen wollten, zum anderen, da man die für die psychische Stabilität der Soldaten so wichtige Brücke zur Familie nicht beschädigen durfte und wollte.
Die Feldpost als historische Quelle ist erst Anfang des 20. Jahrhunderts in das Blickfeld von Forschern geraten. Es waren in Deutschland erstaunlicherweise nicht zuvörderst Historiker, die sich um eine breite Sammlung und Archivierung von Feldpost bemühten, sondern Volkskundler. Die äußerst ideologisch belastete Geschichtswissenschaft interessierte sich zuerst nur für Quellen und Dokumente, die ihre „Sicht von oben“ auf die Ereignisse belegten. In diesem Sinne war aus Feldpostbriefen von Generalen, Angehörigen des Adels oder anderen prominenten Gruppen kein wirklicher Erkenntnisfortschritt zu erwarten, sind doch, nach Marx, die herrschenden Ideen einer Gesellschaft eben die Ideen der Herrschenden.
Der Ansatz der Volkskundler noch vor dem Ersten Weltkrieg, sich Briefen des „einfachen Mannes“ zuzuwenden, war damals durchaus modern und revolutionär, geprägt von den gravierenden sozialen Veränderungen der Gesellschaft. Auch die unteren sozialen Schichten produzierten jetzt schriftliche Texte. In den Zeiten davor waren lediglich Briefe und Erinnerungen von Heerführern, Generalen und Adligen der Betrachtung wert gewesen und ihre Veröffentlichung nur für die herrschende Minderheit gedacht. Ob sie überhaupt größeres Interesse fanden, sei dahingestellt.
Literatur und Publizistik
Größtes Interesse fand die Feldpost in der Literatur und damit auch in der Germanistik. Der Briefroman als literarisches Genre ist seit Jahrhunderten belegt. Großer Beliebtheit erfreute er sich im 18. Jahrhundert im Zeitalter der Romantik. Im Zusammenhang mit der literarischen Gestaltung moderner Kriege, wurde seit Ende des 19. Jahrhundert, im Verlaufe der Zeit zunehmend, auf Ego-Dokumente zurückgegriffen, um sich angesichts der als undurchschaubar empfundenen, übermächtigen Ereignisse einer wie auch immer gearteten „Realität“ zu vergewissern.
Der größte deutsche Bucherfolg aller Zeiten, der Roman Im Westen nichts Neues (1928) von Erich Maria Remarque (1867 – 1954), bildete die Initialzündung für eine Literatur über den Krieg, die sich mit dem Nimbus des Authentischen umgab. Erst Jahrzehnte nach dem Erscheinen dokumentierte die Literaturwissenschaft, dass Remarque, anders als es die durch den Ullstein-Verlag forcierte Legende verbreitete, mit seiner Biographie nicht für das erzählte Geschehen zeugen konnte. Fortan aber wurde von literarischen Texten immer wieder implizit oder explizit behauptet, auf wahren Begebenheiten zu beruhen. Die dazu angeführten „Dokumente“, oft Feldpostbriefe, erweisen sich jedoch meist rasch selbst als Fiktionen.
Der heute weitgehend vergessene Kriegsroman Alf von Bruno Vogel (1898 – 1987), der 1929 im Gefolge von Remarques Bestseller erschien, basiert zum allergrößten Teil auf Feldpostbriefen, wenn auch, wie zu vermuten ist, auf teilweise fiktiven. Hier ist eines der zentralen Probleme bei der Verwendung von Feldpost in der schöngeistigen Literatur benannt: die Seriosität und Authentizität der Quellen. Eigentlich sollte diese Frage bei literarischen, also fiktiven, Werken keine Rolle spielen. Doch gerade die Literatur der Weltkriege wurde von großen Teilen der Rezipienten hartnäckig als „wahre“ Erlebnisberichte gelesen. Die Romanschreiber kamen dieser – verkaufsfördernden – Rezeptionshaltung durchaus entgegen und gaben vor, über den Krieg zu berichten, „wie er wirklich war“.
Beispielhaft für die ästhetisch gelungene Literarisierung von Feldpost des Zweiten Weltkrieges sei hier der Roman Stalingrad (1945) von Theodor Plievier (1892 - 1955) genannt. Der Autor hatte sich literarisch schon in der Weimarer Republik u. a. mit dem an Erich Maria Remarque geschulten Roman über den Ersten Weltkrieg Des Kaisers Kulis (1929) einen Namen gemacht hatte. Es ist belegt, dass dem Schreiben von Stalingrad umfangreiche und intensive Materialstudien des Autors vorausgegangen waren. Auf Initiative von Johannes R. Becher (1891 - 1958) wurde ihm von der Roten Armee eine große Anzahl von Akten und Unterlagen, besonders aber von Feldpostbriefen und Tagebüchern gefallener oder gefangener deutscher Soldaten zur Verfügung gestellt. In der Stadt Ufa im südlichen Ural, wo sich Plievier nach der Evakuierung aus Moskau aufhielt, begann er mit der Sichtung der Dokumente. Nach der Rückkehr in die sowjetische Hauptstadt hatte er dann auch die Möglichkeit, mit Soldaten, Unteroffizieren, Offizieren und Generalen der 6. Armee in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern zu sprechen. Bevor 1943/44 in der von Becher in der Sowjetunion herausgegebenen Zeitschrift Internationale Literatur/ Deutsche Blätter in Fortsetzungen Auszüge aus dem Roman Stalingrad erschienen, veröffentlichte Plievier dort einige Erzählungen, die augenscheinlich Vorarbeiten zum Roman darstellen. Alle diese Geschichten sind nach dem gleichen Grundmuster geschrieben: aus wahrscheinlich authentischen Zitaten aus Briefen gefallener oder gefangener Soldaten wird die mögliche Geschichte des Verfassers oder Empfängers entwickelt. Tausende Kilometer von der Heimat entfernt, bemühte sich Plievier entsprechend seines Mottos „Pas verité sans fiction“ um ein Psychogramm der deutschen Gesellschaft unter dem Hakenkreuz.
Die Form des dokumentarischen Romans scheint für Plievier die geeignete Form, den überbordenden Bildern, Phrasen und Verdrehungen der nationalsozialistischen Mythisierung zu begegnen. Das erzählte Geschehen umfasst ca. 100 Tage. Die Chronologie des Erzählten folgt streng dem Verlauf der Kriegshandlungen. Das Erzählen gleicht einem kontinuierlich fließenden, breiten Strom, aus dem der Autor immer wieder einzelne Episoden bzw. Figuren heraushebt, beispielhaft bereits im ersten Satz des Romans: „Und da war Gnotke“
Den vielfältigen Schicksalen der mehr als 300.000 Soldaten im Stalingrader Kessel versucht Plievier mit einer Vielzahl von Figuren und wirklichen oder nur vermeintlichen Dokumenten, oft Feldpostbriefen, beizukommen. Er schreitet damit das ästhetische Modell des klassischen Romans bis an seine Grenzen aus.
Die „Sucht nach dem Dokument“ wurde nicht nur durch die Literatur bedient, sondern natürlich auch durch die Publizistik, die ja eigentlich die Domäne der Veröffentlichung authentischer Quellen sein sollte. Sie ist allerdings oftmals nur schwer von der Propaganda zu trennen, weswegen auch hier die Authentizität hinterfragt werden sollte.
Buchausgaben allein mit Feldpostbriefen gibt es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Eine der ersten, Die Kriegsbriefe aus den Jahren 1870/71 von Hans von Kretschmann, erschienen in zahlreichen Auflagen. Kretschmann war weiland – natürlich – General. Der Band wurde allerdings erst Jahrzehnte später von seiner Tochter herausgegeben. Ob, und wenn ja wie weit sie in die Texte eingegriffen hat, ist unbekannt. Angesichts der gängigen Publikationspraxis kann man wohl von Bearbeitungen ausgehen. Bei Kretschmann jedenfalls wird ab der siebten Auflage 1910 vermerkt, sie sei „vermehrt und verbessert“.
Eingang fand die Feldpost von Soldaten und Unteroffizieren in Publikationen, wenn sie als Beispiele für die „vaterländische Gesinnung“ des Volkes in nationale Zusammenhänge kommentierend eingeordnet werden konnte. Auch diese Texte wurden unzweifelhaft zumindest stilistisch bearbeitet. So lesen sich die 1886 erschienenen Betrachtungen eines „alten Soldaten“ über Leistungen der Norddeutschen Feldpost des Obristen H. v. Wulffen eher wie eine Erzählung Adalbert Stifters, denn als historischer Bericht. Um seine durchaus richtige These zu untermauern, „Die Feldpost hat dem deutschen Heere 1870/71 wesentlich mit zu den errungenen Siegen verholfen!“, zitiert Wulffen aus ihm vorgeblich zugänglich gemachten Feldpostbriefen und entwickelt daraus eine zumeist patriotische Geschichte, die er fortentwickelt, da er Empfänger oder Verfasser nach dem Kriege besucht. Somit entsteht ein kleines (militärisches) Sittengemälde der Kaiserzeit und ein Beitrag zur patriotischen Erziehung.
Während des Ersten Weltkrieges kam es auch zu einem bis dahin ungekannten Umfang von Veröffentlichungen der Feldpostbriefe in Zeitungen, Broschüren und Büchern. In der Weimarer Republik mit ihren politischen Wirren und Auseinandersetzungen gab es ein breites Interesse an diesen Texten, das durch Sammelbände bedient, aber auch teilweise erst geweckt wurde. Am bekanntesten wohl der Band Kriegsbriefe gefallener Studenten, der bereits 1915 unter dem Titel Kriegsbriefe deutscher Studenten erschien. Er erlebte mehrfach veränderte Auflagen, die wohl relevanteste erschien ab 1928. Hier lassen sich sinnfällig Grund und Zielrichtung solcher Publikationen festmachen. Sie dienten vornehmlich der patriotischen Erziehung – oder Erbauung. Die Briefe wurden sorgsam ausgewählt, um einem deutschnationalen Weltbild zu entsprechen, um politische Positionen in der Gegenwart zu besetzen und zu legitimieren. Mit der tragischen Erinnerung an die Opfer des Ersten Weltkrieges wurde nicht zuletzt der Boden für den Zweiten bereitet.
Die Kriegsbriefe gefallener Studenten reihten sich ein in die heftigen Diskussionen des Jahres 1928, als der Reichstag über den Bau des Panzerkreuzers A debattierte und der gerade erschienene Roman Im Westen nichts Neues die Initialzündung für eine beispiellose gesellschaftliche Auseinandersetzung über Krieg und Frieden war.
Dass dieses Thema nicht nur in Deutschland relevant war, ist an den Übersetzungen des Bandes u. a. ins Niederländische, Englische und Dänische abzulesen. Die Kriegsbriefe erreichten durch ihren gehobenen, emotionalen, oft pathetischen Stil und die geradezu literarischen Dimensionen breite Akzeptanz.
Eine Besonderheit sind die Kriegsbriefe gefallener deutscher Juden, die mit einer Titel-Zeichnung von Max Liebermann in mehreren Auflagen 1935 erschienen. Auch dieser Band ist von vaterländischen Gedanken geprägt, sicher um angesichts des bedrohlichen Antisemitismus die „Normalität“ jüdischer Mitbürger zu betonen. Geradezu beschwörend das Motto auf der ersten Seite: „Wir starben für Deutschland!“
Einen Höhepunkt, oder besser gesagt Tiefpunkt, bedeutete die Aufnahme von Kriegsbriefen durch die NS-Propaganda, die die Funktionalisierung der Texte perfektionierte. Nicht nur in Büchern, sondern auch den Medien der Massenkommunikation, Zeitungen, Zeitschriften und dem Rundfunk nahmen Briefe bei der Darstellung der Kriegsereignisse einen besonderen Platz ein. Nach 1939 konnten die historischen Texte des Ersten Weltkrieges durch zeitgenössische ersetzt werden. Die angeblich authentischen Dokumente, der Leser konnte ja die Quelle nie verifizieren, sollten für die Wahrheit der Propaganda zeugen. Und sie verfehlten wohl dieses Ziel meist nicht. Je deutlicher die Niederlage absehbar war, um so mehr wurden Feldpostbriefe in Zeitungen publiziert – Briefe getragen von einem Durchhaltewillen, den man den Propagandisten scheinbar nicht mehr abnahm.
Nach dem Zweiten Weltkrieg erschien, wie nach dem Ersten, in der Bundesrepublik 1952 ein Band Kriegsbriefe gefallener Stundenten, mit ähnlicher ideologischer Ausrichtung. Nach 1945 spielten bei der Deutung des Erlebten wiederum Feldpostbriefe eine bedeutende Rolle. Es ging um eine Selbstverständigung der Kriegsgeneration über das gemeinsam Erlebte und Erlittene, seltener um das Verübte. Zu Zeiten des Kalten Krieges wurden in Ost wie West ausgewählte Feldpost-Texte in den politischen Diskurs eingebaut. Und waren nicht die „richtigen“ Texte zur Hand, wusste man ebenfalls Abhilfe. Es hat lange gedauert, bis sich bspw. die Erkenntnis durchsetzte, dass der damals populäre, in mehreren Auflagen erschienene Band Letzte Briefe aus Stalingrad eine Fälschung war. Nicht gefälscht hingegen, aber aus einer Vielzahl sorgsam entsprechend seiner Intention ausgewählt, sind die Briefe die der kommunistische Autor Erich Weinert (1890 – 1953) in seinem Fronttagebuch Memento Stalingrad verwendete.
Immer wieder wurden auch Briefbände mit weltanschaulicher oder religiöser Grundlegung veröffentlicht. Diese Auswahlsammlungen sind verschiedenen Interessenslagen verpflichtet. Wissenschaftliche Untersuchungen gibt es z. B. zur Feldpost sozialistisch eingestellter Arbeiter im Ersten Weltkrieg.
Oft mit Unterstützung der christlichen Kirchen wurden zahlreiche Sammelbände mit Briefen konfessionell gebundener Soldaten zusammengestellt. Diese dienten dem Gedenken an die gefallenen Glaubensbrüder und der Erinnerung an das Elend und das Grauen der Kriege.
Wissenschaftliche Interessen
Die Differenzierungen in der Wissenschaftslandschaft seit dem Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts führten in Deutschland Ost wie West zur Beschäftigung mit Feldpost in vielen gesellschaftswissenschaftlichen bzw. geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Kultur-, Alltags-, Sozial- und Mentalitätsgeschichte, aber auch Psychologie, Pädagogik u. a. sind hier zu nennen. Die Grenzen zwischen den Disziplinen sind fließend.
In seiner ab 1980 erschienen Reihe Geschichte des Alltags des deutschen Volkes betonte der vielseitige marxistischen Wirtschaftshistoriker Jürgen Kuczynski (1904 1997) etwas, was besonders auch für Analysen der Zeit nach 1871 zutrifft und wofür Feldpost eine wertvolle Quelle in Zeiten gravierender gesellschaftlicher Problemstellungen darstellt:
„Der Alltag des Soldaten? Lohnt es sich wirklich, dem Alltag dieser Sondergruppe, die weder eine Klasse noch eine sozialökonomische Schicht des Volkes bildet, ein besonderes Kapitel zu widmen? Ja, wahrhaftig es lohnt sich! Denn kein Wirtschaftszweig beschäftigte zum Beispiel in Preußen [...] so viele Menschen wie das Heer.“
In die Sittengeschichte der Weltkriege, die Magnus Hirschfeld (1868 – 1935) für den Ersten Weltkrieg verfasste und die eine Publikation zum Zweiten Weltkrieg anregte, gingen ebenfalls die Alltagserfahrungen der Soldaten maßgeblich ein, die u. a. in Feldpostbriefen dokumentiert sind. Allerdings ist bei diesen interdisziplinär angelegten Texten, die eine Mischform aus Wissenschaft und Publizistik darstellen, die Quellenlage meist unklar.
Eine wichtige Quelle wurde die Feldpost auch für die Wissenschaftsgeschichte verschiedener Disziplinen. Besonders zahlreiche Berichte aus Feldpostbriefen u.a. Ego-Dokumenten wurden von Medizinhistorikern veröffentlicht. Neben den Männern, die als Militärärzte eingesetzt waren, sind es, einmalig in Deutschland, auch Frauen, Krankenschwestern, die hier in Feldpostbriefen zu Wort kommen. Diese Publikationen widerlegen übrigens einen, nicht nur literarisch transportierten, Mythos von der gleichsam natürlichen Friedfertigkeit von Frauen und sind daher auch für die moderne Genderforschung von Interesse. Vom Anbeginn der Zeiten wurden Kriege nicht nur von Männern geführt, sondern auch beschrieben, erzählt und vermittelt. Der Krieg ist schließlich der Vater aller Dinge. Feldpostbriefe sind im allgemeinen Bewusstsein Briefe von Soldaten. Weibliche Stimmen gab es von der so genannten Heimatfront. Die Erfahrungswelten „Front“ und „Heimatfront“ werden in allen Briefanthologien deutlich geschieden. Doch diese Trennung entspricht so nicht der Realität. Es gab sie vieltausendfach in den sieben Kriegsjahren: Wehrmachts-, Marine- und Nachrichtenhelferinnen – und vor allem Krankenschwestern an der Front, in Hörweite der Geschütze. Besonders bei den Rückzügen ab 1943 gerieten sie oft in unmittelbare, gefährliche Nähe zum „Feind“. Lediglich eine kleine, wenig beachtete Anthologie von Schwesternbriefen mit propagandistischer Funktion erschien im Dritten Reich 1940. Allerdings sind alle Zeit- und Ortsangaben der Briefe so vage, die Texte stilistisch auf hohem Niveau so einheitlich, die Angaben von Fakten so bemüht korrekt, dass man hier wohl kaum von authentischen Briefen ausgehen kann. Erst seit wenigen Jahren wird die Feldpost von Frauen in der Forschung überhaupt beachtet.
Die Resultate einer so neuen wie ungewöhnlichen Lebensform, wie sie die Existenz von Soldaten im Krieg darstellt und wie sie sich in den Feldpostbriefen darstellt, wurde bereits nach dem Ersten Weltkrieg in ethischen, philosophischen, theologischen und religionswissenschaftlichen Schriften diskutiert.
Theologie und Religionswissenschaft diskutieren das Gottesbild der Feldpostbriefe, was in den Brieftexten häufig mit dem Glauben an den Führer bzw. Nationalsozialismus konkurriert. Das Kriegerlebnis führt ebenso zu einer verstärke Abwendung von, wie verstärkten Hinwendung zur Religion. Es stellt sich die Frage nach dem Sinn des Lebens, verstärkt an emotional aufgeladenen Feiertagen wie Weihnachten. Auch die Rolle der Priester/Pfarrer spielt eine Rolle. Häufig werden sie und die Art der von ihnen betriebenen Seelsorge kritisch gesehen, auch von Gläubigen.
Die Motivation des Kämpfens und Tötens, die Reflektion der Beteiligung bei Verbrechen oder das Zuschauen bei Massakern, aber auch die Erzählungen über die Begegnungen mit der Zivilbevölkerung in den unterworfenen Gebieten wird von Soziologen untersucht. Ebenso die Bedeutung sozialer Beziehungen. Der Krieg zerreißt familiäre Strukturen und schafft neue Verhältnisse zwischen Mann, Frau, Eltern und Kindern. Besonders die Rolle der Frau ändert sich im Krieg.
Gegenstand der Pädagogik ist die Feldpost, „denn in den Briefen sind die Ergebnisse von Beeinflussungsprozessen, die auch in der Schule stattfanden, festgehalten“ Ein auch literarisch verarbeitetes Stereotyp sind im Ersten Weltkrieg Abiturklassen, die sich geschlossen zum Kriegseinsatz freiwillig melden. Feldpost wird als Unterrichtslektüre in Geschichte, Deutsch, Ethik, Religion und anderen Fächern verwendet.
Die Arten der Verarbeitung der Ausnahmesituation Krieg ist für die Psychologie von Interesse, ebenso die Veränderung der Lebenskonzepte und die Tatsache, dass Realität, z. B. im Kessel von Stalingrad zunehmend durch Illusion ersetzt wird, was u. a. an der sprunghaft zunehmenden Frequenz des Wortes „hoffen“ etc. zum Ausdruck kommt. Allmacht und Ohnmacht, Selbstbild, Angst und Verdrängung von Angst, Feindbilder, Töten sind weitere Stichworte, die bei der Untersuchung von Feldpost wichtig sind.
Die sprachlichen Prozesse, die Umdeutung von Begriffen durch die NS-Propaganda, die Übernahme von Sprachmodellen und von Formulierungsangeboten und das Erzählen von Witzen und Gerüchten sind Gegenstand der Linguistik. In den Feldpostbriefen finden sich Elemente der Sklavensprache. Auch für die Soldaten trifft vieles zu, was Victor Klemperer in seiner LTI notierte.
Präsentationen
In der Museums- und Ausstellungskultur erhalten Feldpostbriefe erst in der Gegenwart den ihnen zustehenden Platz. Sie werden nicht mehr nur als reine Illustrationen und (mehr oder weniger) dekorative Ausstellungstücke verwendet, sondern als ernst zu nehmende Dokumente, die vom (mörderischen) Alltag des Krieges in all seinen Facetten erzählen. Eine Ausstellung die all die modernen Anregungen und neuen Konzepte und Theorien einbezieht, entsteht zurzeit im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden, das 2010 wieder eröffnet wird.
„Die Vielperspektivität der neuen Dauerausstellung bietet mit ihren sozialgeschichtlichen und kulturgeschichtlichen Verzweigungen verschiedene Lesarten deutscher Militärgeschichte. Im Zentrum der neuen Ausstellung steht der Mensch, die anthropologische Seite von Gewalt.“
Das genaue Gegenteil dieser modernen und wissenschaftlich gediegenen Art, in Museen Feldpost zu präsentieren, ist das moderne Infotainment, jene Mischung aus Unterhaltung, Halbwissen und authentischen Versatzstücken, mit meist nur vagen Quellenangaben. In den Produkten aus den Redaktionsstuben der yellow-press, aber auch von ZDF history u. Co. verkommen Feldpostbriefe zu reinen Illustrationen vorgeprägter Sichtweisen. Es sind dies eher Inszenierungen als Dokumentationen. Die Funktionalisierungen haben weniger mit dem Geist der Feldpostbriefe, sondern mehr mit der ideologischen Welt des Produzenten zu tun.
Der Schriftsteller Günter Kunert hat dieserart entworfene Bilder des Krieges prägnant in der Kurzgeschichte Das Bild der Schlacht am Insonzo beschrieben:
Auch der Maler war in der Schlacht gewesen; bald danach fertigte er ein Gemälde an, auf dem er darstellte, was er gesehen hatte: Im Vordergrund lagen Sterbende, denen die Gedärme aus den aufgerissenen Leibern quollen, und Leichen, über die Pferde und Tanks weggegangen, dass bloß blutiger Brei geblieben, geschmückt mit Knochensplittern. Dahinter stürmten die Soldaten der gegnerischen Heere aufeinander zu, in besudelten Uniformen, angstverzerrt die Gesichter. Im Hintergrund, unterhalb des Befehlsstandes, waren Offiziere dabei, Weiber zu schwängern, Kognak zu saufen und die Ausrüstung ganzer Kompanien für gutes Geld zu verhökern.
Dies war das Bild, und es hing im Atelier des Malers, als ein Besucher erschien, der sich porträtieren lassen wollte und durch Wesen und Benehmen sich als alter General zu erkennen gab: Er erschrak vor dem Bild.
So sei die Schlacht nie gewesen, rief er, das Bild lüge.
Sein blinzelnder Blick fuhr kreuz und quer das Werk ab und entdeckte dabei hinter dem zerschmetterten Schädel eines Toten eine kleine Gestalt, die trommelnd und singend und mit kühn verschobenem Helm aufs Schlachtfeld lief. Dieses Detail kaufte der General, ließ es aus dem Gemälde schneiden und einrahmen: Damit künftige Generationen sich ein Bild machen könnten von der großen Schlacht am Isonzo.
Feldpostbriefe gewähren uns heute Einblick in Ereignisse und Empfindungen, die ansonsten verborgen blieben. Nach gut 60 Jahren haben die Briefe jedoch ihren privaten Gebrauchswert verloren. Die Briefe erlangen durch die Beschäftigung eine neue Bedeutung: Sie sind zu Zeitzeugnissen geworden. Mehr noch, sie sind eine einzigartige Quelle des Alltäglichen in der Ausnahmesituation des Krieges. Die Briefe von Tausenden von Soldaten und ihren Angehörigen und Freunden erlauben einen Einblick in Umstände, die viele andere Menschen in jener Zeit ähnlich erlebten. Die Auseinandersetzung durch die Historiker macht das Gewöhnliche sichtbar. Die Figuren der Geschichte können durch ihre Korrespondenz wahrgenommen werden als Bruchstücke der Geschichtsschreibung. Mit Hilfe ihrer Briefe lernen wir diejenigen kennen, die unsere Geschichte mit ihren Geschichten gestaltet haben. Hier ist sie präsentiert, ungeschönt und unverstellt, unbewertet und unkommentiert. Große und kleine Geschichte stehen nebeneinander, mitunter nur durch ein Komma getrennt.